Francisco Cienfuegos über Jim Palmensteins Leuchtfeuer im Kupfer der Dämmerung
Manche könnten denken, dass dieses Werk für einen Lyrikband zu umfangreich, zu komplex, zu voluminös, zu unübersichtlich, ja fast schon entgrenzend wäre. Aber was wäre (gute) Lyrik, wenn sie nicht Herkömmliches in Frage stellt? Oder anders gesagt: entsteht Lyrik oder lyrische Prosa nicht erst dadurch, dass Grenzen überschritten werden: rationale, normative, kulturell tradierte… wenn es nicht einen Pablo Neruda gegeben hätte, der die Poesie aus dem verstaubten Kanon der Metrik befreit hätte oder Rilke, der durch die Ausdruckskraft einer bis dahin unbekannten intensiven emotional‐sinnlichen Bildersprache die psychischen Schichten einer gesamten Generation zu durchdringen vermochte… was wäre Poesie ohne Mut zum Neuen? Ein leeres Gefäß… und davon gibt es schon allzu viele.
Und außerdem, am Rande bemerkt: Wer sagt denn, dass es sich bei „Leuchtfeuer im Kupfer der Dämmerung“ um einen Lyrikband handelt? Müssen wir denn jedes Buch kategorisieren, zuordnen, in ein fiktives Schubladensystem stecken? Mit Jim Palmenstein kann man es zwar versuchen, aber es wird nicht gelingen. Weil es nie das ist, was es zu sein scheint… oder: es ist, was es ist. Und auch nicht. Ein fliegender Teppich.
Nein, Jim Palmensteins Werk ist eine Überraschungskiste. Ein opulentes Schreib‐prosalyrik‐voller‐Facetten‐Leuchtfeuer‐Realitätsskizzentraumnebel‐Kunst‐Werk. Schon mit dem Titel des ersten Kapitels begibt man sich auf einen Gipfel, von dem man das Wechselverhältnis von Fremd‐ und Selbstwahrnehmung wie eine weite Landschaft erblickt. Höchstes Niveau:
„Mit allem eins?/Oder ist alles ganz anders?“
Anders als was?, ist man da versucht zu fragen – anders als eins? Wenn es anders als eins ist, impliziert das nicht bereits die Existenz – oder die Wirklichkeit – einer Allverbundenheit? Es geht hier um die Antinomie von Nähe und Abgrenzung, die der Autor immer wieder schweigend, denkend, singend, satirisch, poetisch, tiefgründig, humorvoll, empathisch, autistisch, malerisch, nackt, nüchtern, verliebt, verlassen, suchend… thematisiert.
Prosa und Lyrik gehen fortlaufend ineinander über, fließen mal getrennt voneinander, dann wieder gemeinsam, verbunden in der Perspektive auf das Leben an sich, vermischen sich, um neuartige Gebilde von Gefühlsstrukturen/Gefühlsadern zu konstruieren. Prosa und Lyrik verzahnen sich. Das eine verwandelt sich fast unbemerkt in das andere, aus einer kurzen Erzählung wird ein Gedicht, aus poetischer Prosa kristallisiert sich Poesie heraus. Und der Leser verwandelt sich mit diesem Strom selbst in Bilderworte und Wortbilder.
Jim Palmensteins Werk ist ein fliegender Teppich. Verwandlungszauber. Es nimmt dich überall mit. Traumstaub. Auf dem Boden der Tatsachen gelandet, auf dem jene Träume zerschellen, um in erneutem Traumstaub zu zergehen.
Jim Palmensteins Werk ist eine sozialkritische Studie. Weil es die Utopie als einzige Möglichkeit zwischenmenschlichen Überlebens sinnstiftend implizit hervorhebt. Und dabei in einer einzigartigen Inszenierung von Sprache, Ungleichheit, Angst, Vereinsamung sowie das Verhältnis zwischen materieller und geistiger Armut in einer eindrucksvollen Sprache kleidet.
Jim Palmensteins Werk ist reine Poesie. Weil es Stile überschreitet und Stille hervorruft. Weil es die Vielschichtigkeit der Realität in Farben der Wirklichkeit verwandelt. Weil das Wort als Prisma in Erscheinung tritt:
„Und wenn es so wäre, dass du hättest gehen können? / damals, irgendwann / gegangen wärst / nur und nur deinem Herz, dem Drang deines Fühlens gefolgt / wenn du niemals gehört hättest / zu früh gewusst / vom Brot, was man den Armen wegnimmt / von den Bomben, die so viele Träume verbrannten / hättest du niemals von weitem das Weinen und die Schreie / gehört…“
– „wenn du hättest gehen können!“
Ich verwende mittlerweile dieses wunder‐volle Buch als Denk‐begleiter, mein neurologisches Navigationssystem. Jederzeit finde ich Perlen darin, erlesene Fundstücke.
Die Kombination von Feinfühligem, Groteskem, Tiefsinnigem durchtränkt von Rückblenden und Skurrilem ist auf großartige Weise gelungen.
Wer das Leben liebt und hasst, wer das Leben als Wagnis… als Reise auf einem fliegenden Teppich betrachtet, wer gerne Gedichte liest, aber ab und zu wertvolle Prosastücke, wie saftig‐pralle Früchte, genußvoll kosten möchte, wird es als Schatzkiste begreifen; und vielleicht findet man darin sogar Verschollenes, wonach man lange, sehr lange, gesucht hat.
Francisco Cienfuegos, geboren in Isla Cristina (Andalusien), kam als Sohn spanischer Gastarbeiter nach Frankfurt. Als promovierter Erziehungswissenschafter lehrt er heute an der Fachschule für Sozialwesen in Frankfurt am Main. Francisco Cienfuegos verfasst Lyrik auf Deutsch und Spanisch und ist Übersetzer von Gedichten in beiden Sprachen. Er ist Mitbegründer der Autorengruppe »Spanische Poesie und Prosa in der Migration«.